Seite 1 von 1

Baguazhang & Hüftgelenke: Eine unterschätzte Problematik

Verfasst: Mittwoch 8. Oktober 2025, 18:58
von Nikita357
Baguazhang gilt als eine der elegantesten und zugleich komplexesten inneren Kampfkünste Chinas. Die spiralförmige Bewegung, das stetige Gehen im Kreis, das Öffnen und Schließen der Hüften, die scheinbar mühelose Rotation um eine zentrale Achse – all das macht Baguazhang zu einem einzigartigen System der Bewegungs- und Energiearbeit.

Doch gerade in dieser Einzigartigkeit liegt eine biomechanische Herausforderung verborgen, über die nur selten offen gesprochen wird: die langfristige Belastung der Hüftgelenke. Aufgrund meiner Erfahrung möchte ich auf eine Problematik hinweisen, die sich häufig in der Praxis bemerkbar macht – aber vermeidbar wäre, wenn sie frühzeitig verstanden würde.

Die Anatomie der Hüfte – ein kurzer Überblick

Das Hüftgelenk ist ein Kugelgelenk mit enormer Bewegungsfreiheit – aber nicht unbegrenzt. Es ist dafür gemacht, Lasten zu tragen, Schrittarbeit zu ermöglichen und Rotation zuzulassen – in Maßen und in Balance. Besonders anfällig ist es für asymmetrische oder rotatorische Dauerbelastung ohne entsprechende Gegenführung durch das myofasziale System.

Was im Baguazhang schief laufen kann

In vielen Baguazhang-Schulen werden folgende Bewegungsmuster betont:

- permanente Innenrotation der Oberschenkel beim Gehen

- ständiges Öffnen und Schließen des Kua (Leistengebiet/Hüftfuge), oft mit bewusster Beckendrehung

- spiralförmige Bewegung, die aus dem unteren Dantian geführt wird – aber oft fälschlich in der Hüfte lokalisiert wird

Fehlt dabei ein fein abgestimmtes Ganzkörpergefühl, kann die Belastung ungewollt punktuell auf das Hüftgelenk fallen. Wer das Kua "öffnet", ohne das Becken strukturell einzubetten (über Gegenimpulse aus Füßen, Beinen und Wirbelsäule), erzeugt Torsionsspannung, die sich nicht ableiten kann – mit dem Ergebnis einer stillen Überlastung.

Die Folgen können sein:

- Mikrotraumata im Labrum acetabulare (Gelenklippe)

- Reizung der Iliopsoas-Sehne und umliegender Schleimbeutel

- frühzeitiger Verschleiß im Gelenkspalt bei asymmetrischem Gehen

- muskulär-fasziale Dysbalancen durch einseitiges Drehen

Typische Fehlerquellen

- Form ohne Struktur: Bewegungen werden äußerlich korrekt, aber ohne innere Verbindung ausgeführt.

- Künstliches Hüftspiel: Das „Öffnen“ der Hüfte wird isoliert trainiert, ohne Einbindung in die Körperkette.

- Zuviel Rotation, zu wenig Spirale: Die Bewegung wird horizontal (mechanisch), statt diagonal (elastisch) verstanden.

- Tiefe Gangarten ohne funktionellen Unterbau: Belastung landet direkt auf dem Kua statt über Füße und Beine abzufedern.

Was schützt die Hüfte im Baguazhang?

Die gute Nachricht: Richtig geübt ist Baguazhang gesundheitsfördernd – auch für die Hüfte. Aber es braucht:

- Bewusstes Gegenarbeiten der Spiralbewegung durch elastischen Bodendruck und Zug-Gegenzug über das Gewebe

- Ein Verständnis für die Kettenführung: Bewegung beginnt in den Füßen, organisiert sich durch die Beine, zentriert im Dantian und öffnet erst dann die Hüfte

- Begrenzung der Rotation auf den tatsächlichen Bewegungsraum des Gelenks (kein forciertes „Öffnen“ über den natürlichen Radius hinaus)

- Regelmäßiger Ausgleich durch Yin-orientierte Praxis (z. B. Dao Yin, Stillstehen, Zhan Zhuang)

Fazit

Ich schreibe diesen Beitrag nicht als Warnung vor Baguazhang – im Gegenteil: Ich liebe diese Kunst. Aber wie bei jedem kraftvollen Werkzeug entscheidet die Anwendung, ob es heilend oder schädigend wirkt. Die Hüfte ist im Baguazhang Zentrum und Gefahr zugleich. Wer ihren Aufbau, ihr Spiel und ihre Grenzen versteht, kann das volle Potenzial dieser Bewegungskunst entfalten – ohne sich selbst auf lange Sicht zu schaden.